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Meine Lieblingssatiren von Ephraim Kishon Politische Satiren

 

 

 

Marginalien

Israel ist ein so kleines Land, dass man auf den meisten Landkarten und Globen seinen Namen nicht einmal voll ausschreibt. Fast immer heißt es »Isr.« und schon aus diesem Grund fällt es uns so schrecklich schwer, die im Sechstagekrieg besetzten Gebiete aufzugeben. Sie würden endlich Platz für das bisher fehlende »-ael« schaffen.
Israel wird als einziges Land der Welt von Steuerzahlern finanziert, die außerhalb seiner Grenzen leben.
Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein grenzenloses Land.
Es ist ein Land, in dem die Mütter von ihren Kindern die Muttersprache lernen.
Die Einwohner dieses Landes schreiben hebräisch, lesen englisch und sprechen jiddisch.
Es ist ein Land, in dem die Väter saure Trauben gegessen haben, damit die Kinder gesunde Zähne bekommen.
Jeder Bewohner dieses Landes hat das gesetzlich verbriefte Recht, frei auszusprechen, was er denkt. Aber es gibt kein Gesetz, das irgendeinen anderen Bewohner verpflichten wurde, ihm zuzuhören.
Israel ist, nicht zuletzt dank der freundlichen Mithilfe der arabischen Welt, das aufgeklärteste, fortschrittlichste und modernste Land der ganzen Gegend.
Wir haben in diesem Land sehr häufig Wahlen, aber nur selten eine Wahl.
Der Staat Israel ist ein organischer Bestandteil seiner Gewerkschaften.
Israel ist ein Land, das beträchtlich weniger produziert, als es zum Leben braucht, und in dem trotzdem noch niemand Hungers gestorben ist.
Es ist ein Land, in dem niemand Wunder erwartet und jeder es als selbstverständlich hinnimmt, dass sie geschehen.
Es ist ein Land, dessen Einwohner in ständiger Lebensgefahr schweben, was sie aber weniger aufregt als das Radio, das in der Nachbarwohnung zu laut angedreht ist.
Es ist ein Land, dessen Soldaten nicht grüßen und nicht Habacht stehen können. Aber sie können kämpfen.
Es ist ein Land, in dem jeder Mensch ein Soldat und jeder Soldat ein Mensch ist.
Es ist das einzige Land, in dem ich leben kann. Es ist mein Land.

 

 

Satiren über den Sechstagekrieg:

Unsere gelegentlichen Beschwerden werden von den United Nations immer streng objektiv behandelt. Die UN wahren das Prinzip »Gleiches Recht für beide«

(in Fachkreisen auch UN-Recht genannt).

Bitte treten Sie beide etwas zurück, meine Herren!

 

Die syrischen Höhen

Jeder israelische Versuch, aus Wüstensand, Sumpf und Gestein ein fruchtbares Land zu machen, wird von den Arabern als Provokation betrachtet, auf die sie mit energischen Gegenmaßnahmen - Wirtschaftsboykott, Sperrung des Suezkanals, Ableitung der Jordanquellen und ähnlichem - antworten. Die unausbleibliche Folge: ein völliger wirtschaftlicher Zusammenbruch. Bei den Arabern.

Israel provoziert.

 

 

Was die Finessen der Weltpolitik betrifft, so haben wir die anderen Völker noch nicht ganz eingeholt. Hingegen ist es uns gelungen, den Mann einzuholen, der die Vernichtung unseres eigenen Volkes durchzuführen hatte, und ihn vor Gericht zu stellen. Der Fall hatte etwas Surrealistisches an sich. Man konnte im Gerichtssaal beinahe plastisch die Gedankengänge einer überwirklichen Ratte verfolgen.

 

2 X 2 = SCHULZE

Ein avantgardistisches Fragment
(Die Szene spielt in einem imaginären Gerichtssaal)

 

Staatsanwalt: Wieviel ist Ihrer Ansicht nach zwei mal zwei?

Adolf: Herr Staatsanwalt, ich bin kein Mathematiker.


Staatsanwalt: Ich möchte trotzdem wissen, wieviel Ihrer Ansicht nach zwei mal zwei ist.
Ich habe mich mit solchen Dingen nie beschäftigt. Wenn ich es mit Problemen dieser Art zu tun bekam, habe ich sie an die zuständige Abteilung weitergeleitet. Die Entscheidungen wurden in jedem Fall von Schulze getroffen.
 

Staatsanwalt: Sie wissen also nicht, wieviel zwei mal zwei ist?
Ich kann darüber keine Angaben machen, Herr Staatsanwalt.
 

Staatsanwalt: Und wenn ich Ihnen auf den Kopf zusage, dass Sie es wissen?
Ziffern waren die Sache von Schulze.
 

Staatsanwalt: Immer, wenn Sie wissen wollten, wieviel zwei mal zwei ist, haben Sie nach Schulze geschickt?
Nicht immer. Manchmal konnten die betreffenden Fragen auch telephonisch geklärt werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, dass Schulze Ende, 1943 in das Salzkammergut versetzt wurde und dass ich ihn erst dort zusammen mit Lehmann getroffen habe.
 

Staatsanwalt: Wusste auch Lehmann, wieviel zwei mal zwei ist?
Das weiß ich nicht. Danach habe ich ihn nie gefragt. Mein Vorgesetzter war, wie schon erwähnt, Schulze.
 

Staatsanwalt: Wusste Schulze die richtige Antwort auf die Frage: »Wieviel ist zwei mal zwei?«
Das kann ich nicht sagen. Ich hatte keine Möglichkeit, in sein Inneres zu sehen.
 

Staatsanwalt: Aber Sie durften sicher sein, dass er die Antwort wusste?
Ich habe mir niemals ein Urteil über meine Vorgesetzten angemaßt.
 

Staatsanwalt: Wieso wissen Sie dann, dass Schulze für diese Dinge zuständig war? Er kann doch nur dann zuständig gewesen sein, wenn er wusste, wieviel zwei mal zwei ist? Woher wissen Sie, dass er das nicht wusste? Oder dass er es wusste?
Ich wusste es nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich sogar daran gezweifelt. Ich bin kein Mathematiker.
 

Staatsanwalt: Dann erklären Sie mir, wieso das Dokument Nr.6013 in Ihrer Handschrift den Vermerk »2 x 2 = 4« trägt.
Das ist unmöglich.


Staatsanwalt: Hier. (Reicht ihm ein Dokument) Haben Sie das geschrieben?
(nach sorgfältiger Prüfung des Dokuments) Ja.
 

Staatsanwalt: Das ist also Ihre Handschrift?
Nein.
 

Staatsanwalt: Nein? Wieso nicht?
Zu dem auf diesem Dokument angegebenen Zeitpunkt war ich nicht in Berlin.
 

Staatsanwalt: Das Dokument wurde in München ausgefertigt.
Ich war auch nicht in München. Ich hatte damals gerade in Dachau zu tun.
 

Staatsanwalt: Was hatten Sie in Dachau zu tun?
Mir fällt soeben ein, dass ich in Linz war.
 

Staatsanwalt: Wie kommt dann Ihre Unterschrift auf dieses Dokument?
Sie wurde später hinzugefügt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die auf diesem Dokument angebrachten Ziffern nicht sehr gut leserlich sind. Besonders die Ziffer 4 ist undeutlich und kann sehr leicht mit der Ziffer 7 verwechselt werden.


Staatsanwalt: Zwei mal zwei wäre dann also sieben?
Das habe ich nicht gesagt. Ich bin kein Mathematiker. Meine Bemerkung bezog sich ausschließlich auf die Form der Ziffer 4, die mich an die Form der Ziffer 7 im Dokument Nr.6013 erinnert.
 

Staatsanwalt: Wollen Sie jetzt angeben, wo Sie sich zum fraglichen Zeitpunkt aufgehalten haben?
In Dachau.
 

Staatsanwalt: Angeklagter, Sie sollen die Frage beantworten, wieviel zwei mal zwei ist.
Nicht sieben. Ich habe nie gesagt, dass es sieben ist. Ich habe nur gesagt, dass mich die Ziffer 4 auf manchen Dokumenten an die Ziffer 7 erinnert.
 

Staatsanwalt: Wir sprechen jetzt nicht über »manche Dokumente«. Wir sprechen über das Dokument Nr.6013.
Für dieses Dokument bin ich nicht verantwortlich, weil ich zur Zeit seiner Ausfertigung in Linz war.
 

Staatsanwalt: Also doch Linz und nicht Dachau?
Soweit ich das aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann.
 

Staatsanwalt: Für mich besteht nicht der geringste Zweifel, dass Sie ganz genau wissen, wieviel zwei mal zwei ist.
Ich muss wiederholen, dass ich kein Mathematiker bin.
 

Staatsanwalt: Heben Sie zwei Finger Ihrer rechten Hand.
(tut es) Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen...
 

Staatsanwalt: Ich habe Sie zu keiner Eidesleistung aufgefordert, sondern nur dazu, zwei Finger zu heben.
Darf ich in diesem Zusammenhang noch eine Aussage machen?
 

Staatsanwalt: Ja.
Lehmann wurde 1943 ins Protektorat versetzt, so dass ihn Schulze in diesem Jahr unmöglich im Salzkammergut treffen konnte.
 

Staatsanwalt: Ich verstehe den Zusammenhang nicht.
Wenn ich einen Eid ablege, Herr Staatsanwalt, dann lege ich einen Eid ab, um die Wahrheit zu sagen. Lehmann hatte mit Schulzes Angelegenheiten nichts zu tun.
 

Staatsanwalt: Schön. Er hatte nichts mit ihnen zu tun. Aber darum handelt es sich nicht. Es handelt sich darum, wie viele Finger Lehmann gehoben hat.
Soweit ich mich erinnern kann, hat Lehmann niemals irgendwelche Finger gehoben.
 

Staatsanwalt: Es war ja auch nicht Lehmann gemeint, sondern Sie. Wieviele Finger sind es, die Sie jetzt gehoben haben?
Ich glaube: zwei. Vorsorglich und in jedem Fall möchte ich mich dagegen verwahren, für etwaige Ungenauigkeiten auf diesem Gebiet verantwortlich gemacht zu werden. Ich bin kein Mathematiker.
 

Staatsanwalt: Lassen wir das. Heben Sie jetzt noch zwei Finger Ihrer linken Hand.
(tut es).
 

Staatsanwalt: Wieviele Finger sehen Sie jetzt?
Zehn.
 

Staatsanwalt: Ich meine: erhobene Finger.
Aber ich kann auch die anderen sehen.
 

Staatsanwalt: Uns interessieren jetzt nur Ihre erhoben Finger.
Auch die nicht erhobenen Finger gehören mir. Sie stellen insgesamt 60 Prozent meiner Fingeranzahl dar, also eine Majorität von 50 Prozent im Vergleich zu den erhobenen Fingern.
 

Staatsanwalt: Ich möchte von Ihnen nichts anderes hören als die Gesamtanzahl der zwei mal zwei Finger, die Sie gehoben haben.
Jetzt?
 

Staatsanwalt: Ja. Zählen Sie.
(versucht es erfolglos) Ich kann nicht.
 

Staatsanwalt: Warum nicht?
Ich bin gewohnt, so zu zählen, dass ich den Finger über die zu zählenden Gegenstände gleiten lasse. Im hier vorliegenden Fall ist der Finger, mit dem ich zählen soll, identisch mit einem der zu zählenden Finger, was mich sehr verwirrt. Außerdem könnte es zu Ungenauigkeiten führen, und da ich unter Eid stehe, muß ich auf größte Genauigkeit bedacht sein.
Darf ich noch eine Aussage machen?
 

Staatsanwalt: Ja.
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ob ich die Leseart, derzufolge zwei mal zwei unter bestimmten Voraussetzungen das Ergebnis vier oder ein annähernd ähnliches Ergebnis haben kann, vollkommen von der Hand weisen wollte. Dessen ungeachtet lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich mich mit Arbeiten auf diesem Gebiet niemals beschäftigt habe, weil das eine Überschreitung der mir übertragenen, genau umschriebenen Zuständigkeit bedeutet hätte. Ich beantrage daher die Einvernahme des Zeugen Schulze, der zum fraglichen Zeitpunkt Gauleiter in Wuppertal war.


Staatsanwalt: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie mit Schulze de facto einer Meinung darüber, dass zwei mal zwei vier ist.
Ich habe bereits wiederholt ausgesagt, dass ich über diesen Punkt nicht aussagen kann, solange ich unter Eid stehe. Aber ich werde selbstverständlich alle aus meiner Aussage entstehenden Folgen auf mich nehmen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich mich meiner Verantwortung entziehen will.
 

Staatsanwalt: Schön. Wieviel ist zwei mal zwei?
Wenn ich nicht irre, habe ich darüber bereits ausgesagt.
 

Staatsanwalt: Ich möchte es noch einmal hören.
Ich habe darüber bereits ausgesagt, wenn ich nicht irre.
 

Staatsanwalt: Wiederholen Sie Ihre Aussage.
Bitte sehr. Ich kann nach bestem Wissen und Gewissen nur aussagen, dass das Ergebnis der hier wiederholt gestellten mathematischen Aufgabe annähernd dem entspricht, was Sie, Herr Staatsanwalt, vor einigen Minuten als Ergebnis festgestellt haben.
 

Anmerkung: Diese Satire spielt sehr wahrscheinlich auf den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem an. Adolf Eichmann war verantwortlich für die Judendeportationen in die Massenvernichtungslager. Unteranderem war Eichmann auch für Ungarn - Kishons Heimat - verantwortlich.

Staatsanwalt: Also vier.
Soweit ich das beurteilen kann.
 

Staatsanwalt: Vier!
Nach allgemeinem Dafürhalten.
 

Staatsanwalt: Zwei mal zwei ist vier - ja oder nein?
Das erstere.
 

Staatsanwalt: Danke. Das ist alles, was ich wissen wollte.
 

 

 

Die irische Frage

Es wird langsam Zeit, dass wir uns auf unsere außenpolitischen Möglichkeiten besinnen. Die Knesset müsste sich in einer ausführlichen Sitzung mit der irischen Frage befassen, und unser Außenminister müsste hernach den englischen Botschafter zu sich berufen, um mit ihm eines jener »freundlichen und konstruktiven Gespräche« zu führen, die im internationalen Verkehr üblich sind:
»Exzellenz«, hätte er zu sagen, »die israelische Regierung hat mich beauftragt, der Regierung Ihrer Majestät unsere Haltung in der irischen Frage zur Kenntnis zu bringen. Wie Sie zweifellos wissen, widmet die Knesset, unser Parlament, dieser Frage die größte Aufmerksamkeit und hat sie erst vor kurzem in einer sechsstündigen Sitzung aufs neue diskutiert. Ich habe die Ehre, Ihnen, Exzellenz, unseren brennenden Wunsch nach einer baldigen Lösung des Konfliktes auszudrücken, einer Lösung, die den legitimen Rechten des irischen Volkes Rechnung trägt. Die israelische Regierung verurteilt jede Form von Terrorakten und missbilligt den verantwortungslosen Gebrauch von Explosivstoffen, seien sie auch noch so libyschen Ursprungs. Dessen ungeachtet wäre es unserer Meinung nach ein schlechter Dienst an der Sache des Weltfriedens, wenn wir übersehen wollten, dass die eigentlichen oder, wie wir sagen zu dürfen meinen, die fundamentalen Ursachen des Problems in der 1921 erfolgten Annexion Nordirlands durch die englische Krone zu suchen sind.«
An dieser Stelle wird unser Außenminister eine kurze Pause machen, wird sich räuspern und zurechtsetzen und wird mit eindringlicher Stimme fortfahren:
»Die israelische Regierung weiß sich bei diesem Schritt im Einklang mit der Mehrheit aller maßgeblichen internationalen Körperschaften. Sie ist aufs tiefste besorgt über den circulus vitiosus, der aus den Gewalt- und Terrorakten auf der einen und aus den übereilten Repressionsmaßnahmen auf der anderen Seite entstanden ist. Wir sind deshalb nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, dass es nur eine einzige tragfähige Lösung geben kann, nämlich den vollen und bedingungslosen Rückzug Englands von den 1921 willkürlich festgelegten Grenzen. Erst wenn die Folgen der britischen Aggression restlos getilgt sind und kein einziger Soldat Ihrer Majestät sich auf irischem Boden befindet, wird in diese von Zwietracht und Blutvergießen heimgesuchte Region der von uns allen so sehnlich erwünschte Friede einkehren. «
Noch eine kurze Pause. Und dann:
»Die konsequente Friedenspolitik meiner Regierung berechtigt und nötigt mich, Ihnen, Exzellenz, klarzumachen, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs durch ihre hartnäckige Weigerung, sich aus allen - ich wiederhole: allen - besetzten Gebieten zurückzuziehen, die alleinige Verantwortung für diese unglückselige Situation auf sich geladen hat. Nicht Grenzen oder Grenzgebiete gewährleisten die Sicherheit und den Wohlstand einer Nation, sondern freundschaftliche Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten, unerschütterliches Vertrauen zu den Grundsätzen des Völkerrechts und ein ehrliches Bedürfnis nach einem echten, dauerhaften et cetera Frieden.«
Unser Außenminister erhebt sich und tritt auf den englischen Botschafter zu:
» Ich bitte Sie, Exzellenz, meine Vorhaltungen unverzüglich an Ihre Regierung weiterzuleiten, und verabschiede mich, auch im Namen von Ephraim Kishon und seinem Freund Jossele, mit vorzüglicher Hochachtung ... «
Ende des Gesprächs. Ende des Wunschtraums.

 

 

Haben Sie jemals eine Schnecke ohne Haus gesehen oder einen gläsernen Hammer? Haben Sie jemals gehört, dass die kleinen Kinder den Storch bringen? Haben Sie jemals gelesen, dass ein Minister zu Fuß gegangen ist? Dann lesen Sie es hier.

Abenteuerlicher Alltag

Die Limousine des Ministers blieb unterwegs plötzlich stehen. Gabi, der Fahrer, stellte den Motor ab und wandte sich um:
»Tut mir leid, Chef - aber Sie haben ja den Rundfunk gehört.«
Das bezog sich auf die Neun-Uhr-Nachrichten, die den Streik der Kraftfahrergewerkschaft angekündigt hatten. Die Kraftfahrergewerkschaft wollte sich mit der Gewerkschaft der Chemie-Ingenieure fusionieren, oder wollte die Fusion mit der Transportarbeitergewerkschaft rückgängig machen, oder vielleicht wollte sie etwas anderes. Jedenfalls streikte sie.
Gabi verließ den Wagen und begab sich ins Gewerkschaftshaus, um Instruktionen einzuholen.
Der Minister saß mitten auf der Straße. Er konnte nicht Auto fahren. Erfindungen, die auf einen Knopfdruck hin laute Geräusche erzeugen, flößten ihm seit jeher Angst ein. Soweit seine Erinnerung zurückreichte, hatte er nur ein einziges Mal ein Auto gesteuert. Das war vor vierzig Jahren, in einem Vergnügungspark, wo der Minister - damals noch jung und ehrgeizig - sich einem Autodrom anvertraut hatte. Später war er dann der führenden Partei beigetreten, hatte Karriere gemacht und jederzeit einen Fahrer zur Verfügung gehabt.
Jetzt werde ich wohl einen Helikopter bestellen müssen, dachte der Minister. Man erwartete ihn zu einer dringlichen Kabinettsitzung. Auf dem Programm stand die Krise der Zementindustrie. Um elf Uhr.
Der Minister begann, die Passanten zu beobachten, die an seinem Wagen vorbeihasteten. Ein merkwürdiges, fast abenteuerliches Gefühl überkam ihn: er war auf der Straße. Mit Verblüffung stellte er fest, wie viele fremde Menschen es im Lande gab. Er kannte nur die immer gleichen Gesichter, die er täglich in seinem Ministerium sah. Fremde bekam er höchstens in anonymen Massen zu Gesicht, am Unabhängigkeitstag oder im Fußballstadion bei... wie hieß doch das Ding... beim Kupferfinale.
Der Minister stieg aus und ging die Straße entlang. Allmählich wuchs sein Vertrauen in diese Art der Fortbewegung. Er dachte nach, wann er zuletzt etwas dergleichen getan hatte. Richtig: 1951. Damals hatte ein Fernlaster seinen Wagen gerammt und er war zu Fuß nach Hause gegangen, quer durch die Stadt, zu Fuß.
Die Blicke des Ministers richteten sich abwärts, dorthin, wo unterhalb der Bauchwölbung seine Füße sichtbar wurden, seine eigenen Füße, die sich rhythmisch bewegten, tapp-tapp, tapp-tapp, linker Fuß, rechter Fuß -jawohl, er wusste seine Füße noch zu gebrauchen. Er wusste noch, wie man auf der Straße geht. Ein gutes Gefühl. Nur die Schuhe sahen ein wenig fremdartig aus. Wo kamen sie her? Er hat sich doch noch niemals Schuhe gekauft, oder?
Genaueres Nachdenken ergibt, dass er selbst überhaupt keine Einkäufe tätigt. Was ist's mit diesen Schuhen? Er bleibt vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts stehen und starrt hinein. Seltsam. Ein völlig neuartiges Phänomen. Schuhe, viele Schuhe, Herren-, Damen- und Kinderschuhe, paarweise arrangiert, auf Sockeln, auf langsam rotierenden Drehscheiben, oder nur so.
In plötzlichem Entschluss betritt der Minister den Laden, einen hohen, langgestreckten Raum mit Reihen bequemer Fauteuils und mit Regalen an den Wänden, und in den Regalen Schuhe, nichts als Schuhe.
Der Minister schüttelt die Hand eines ihm entgegenkommenden Mannes:
»Zufrieden mit dem Exportgeschäft?«
»Mich dürfen Sie nicht fragen«, lautet die Antwort. »Ich suche Sämischlederschuhe mit Gummisohlen.«
Der Minister sieht sich um. Wie geht's hier eigentlich zu? Nehmen die Leute einfach Schuhe an sich oder warten sie, bis der Kellner kommt?
Eine Gestalt in weißem Kittel, vielleicht ein Arzt, tritt an den Minister heran und fragt ihn, was man für ihn tun könne.
»Schicken Sie mir ein paar Muster«, sagt der Minister leutselig und verlässt den Laden.
Draußen auf der Straße fällt ihm ein, dass er sich nicht zu erkennen gegeben hat. Und dass er nicht von selbst erkannt wurde. Ich muss öfter im Fernsehen auftreten, denkt der Minister.
Es wird spät. Vielleicht sollte er in seinem Büro anrufen, damit man ihm irgendein Transportmittel schickt oder ihn abholt. Anrufen. Aber wie ruft man an? Und wenn ja: wo? Er sieht weit und breit kein Telefon. Und sähe er eines, wüsste er's nicht zu handhaben. Das macht ja immer seine Sekretärin, die gerade heute nach Haifa ge­fahren ist, in irgendeiner Familienangelegenheit.
Außerdem wäre sie ja sonst in seinem Büro und nicht hier, wo es kein Telefon gibt. Da - ein Glasverschlag - ein schwarzer Kasten darin - kein Zweifel: ein Telefon.
Der Minister öffnet die Zellentür und hebt den Hörer ab: »Eine Leitung, bitte.«
Nichts geschieht. Der Apparat scheint gestört zu sein. Von draußen macht ihm ein kleiner Junge anschauliche Zeichen, dass man zuerst etwas in den Kasten werfen muss.
Natürlich, jetzt erinnert er sich. Er ist ja Vorsitzender des Parlamentsausschusses für das Münz- und Markenwesen. Er kennt sich aus. Der Minister betritt den näch­sten Laden und bittet um eine Telefonmarke. »Das hier ist eine Wäscherei«, wird ihm mitgeteilt. »Telefonmarken bekommen Sie auf dem Postamt.« Eine verwirrende Welt fürwahr. Der Minister hält nach einem Postamt Ausschau und erspäht auf der jenseitigen Straßenseite einen roten Kasten an einer Häusermauer. Er weiß sofort, was das ist. In solche Kästen tun die Menschen Briefe hinein, die sie vorher zu Hause geschrieben haben.
»Entschuldigen Sie«, wendet er sich an eine Dame, die neben ihm an der Straßenkreuzung wartet, »bei welcher Farbe darf man hinübergehen?«
Er ist ziemlich sicher, dass sein Wagen immer bei grünem Licht losfährt. Aber gilt das auch für Fußgänger? Der Menschenstrom, der sich jetzt in Bewegung setzt, schwemmt ihn auf die gegenüberliegende Straßenseite mit. Dort, gleich neben dem roten Kasten, entdeckt er ein Postamt, tritt ein, und wendet sich an den nächsten
Schalterbeamten: »Bitte schicken Sie ein Telegramm an mein Ministerium, dass man mich sofort hier abholen soll.«
»Mit einem Flugzeug oder mit einem Unterseeboot?« fragt der Schalterbeamte und lässt zur Sicherheit die Milchglasscheibe herunter.
Der Mann scheint verrückt zu sein, denkt der Minister und geht achselzuckend ab.
Nahe dem Postamt befindet sich ein Zeitungsstand. Wie sich zeigt, hat der Minister große Schwierigkeiten, unmarkierte Zeitungen zu entziffern. In den Zeitungen auf seinem Schreibtisch sind die Artikel, die er lesen soll, immer eingerahmt.
»Ein Glas Orangensaft?« fragt eine Stimme aus dem Erfrischungskiosk, vor dem er stehengeblieben ist.
Der Minister nickt. Er ist durstig geworden und leert das Glas bis auf den letzten Tropfen. Welch wunderbares Erlebnis: allein auf der Straße ein Glas Orangensaft zu trinken und erfrischt weiterzugehen.
Der Kioskinhaber kommt ihm nachgerannt:
»45 Agorot, wenn ich bitten darf!«
Der Minister starrt ihn an. Es dauert sekundenlang, ehe er begreift, was gemeint ist. Dann greift er in seine Tasche. Sie ist leer. Natürlich. Solche Sachen werden ja immer von seiner Sekretärin erledigt. Warum musste sie gerade heute nach Haifa fahren?
»Schicken Sie mir die Rechnung, bitte«, sagt er dem gierigen Inkassanten und entflieht.
Als er endlich innehält, steht er vor einem in Bau befindlichen Haus. Die emsigen Menschen, die rundum beschäftigt sind, beeindrucken ihn tief. Nur der Lärm stört ihn ein wenig. Und was ist das für eine graue Masse, die sie dort in dem Bottich zusammenmischen?
»Einen schönen guten Tag wünsche ich!«
Ein alter Mann, wahrscheinlich ein Sammler für irgendwelche neu aufgelegten Anleihen, hält ihm die Hand hin. Auch ihn verweist er an sein Büro.
Immer neue Überraschungen: dort, in einer Reihe von Glaskästen, hängen Bilder halbnackter Mädchen! Der Minister blickt auf - jawohl, er hat's erraten: ein Kino. So sieht das also aus. Er empfindet heftige Lust, hineinzugehen und endlich einmal einen Film zu sehen. Sonst kommt er ja nie dazu.
Der Minister klopft an die versperrte Eisentüre. Er muss mehrmals klopfen, ehe eine verhutzelte Frauensperson den Kopf heraussteckt:
»Was los?«
»Ich möchte einen Film sehen.«
»Jetzt? Die erste Vorstellung beginnt um vier Uhr nachmittag.«
»Nachmittag habe ich zu tun.«
»Dann sprechen Sie mit Herrn Weiss.« Und die Eisentüre fällt ins Schloss.
An der nächsten Straßenecke steht ein ungewöhnlich großer, länglicher, blaulackierter Wagen, der eine Menge wartender Leute in sich aufnimmt. Ein Bus! schießt es dem Minister durch den Kopf. Erst vorige Woche haben wir ihnen das Budget erhöht. Um 11,5 Prozent. Da kann ich ja einsteigen.
»Hajarkonstraße«, sagt er dem Fahrer. »Nummer 71.«
»Welcher Stock?«
»Wie bitte?«
»Machen Sie, dass Sie vom Trittbrett herunterkommen!«
Der Fahrer betätigt die automatische Tür und saust los.
Eine merkwürdige Welt mit merkwürdigen Spielregeln. Der Minister versucht sich zu orientieren, kann jedoch mangels irgendwelcher Wahrzeichen - Hilton-Hotel oder griechisches Restaurant - nicht feststellen, wo er sich befindet.
Menschen fluten an ihm vorbei, als wäre nichts geschehen. Dies also ist die Nation, das Volk, die Masse der Wähler. Den jüngsten Meinungsumfragen zufolge wird im Oktober jeder dritte dieser fremden Menschen für ihn stimmen. Der Minister liebt sie alle. Er ist seit seiner frühesten Jugend ein überzeugter Sozialist.
Endlich, auf vielfach verschlungenen Wegen, hat er zu seiner Limousine zurückgefunden; gerade rechtzeitig, um den Fahrer Gabi herankommen zu sehen.
»Zwei Sonderzahlungen jährlich und erhöhtes Urlaubsgeld«, sagt Gabi.
Der Streik ist beendet. Sie steigen ein. Gabi lässt den Motor anspringen.
Und der Minister kehrt von seinen Abenteuern auf einem fremden Planeten in die Welt seines Alltags zurück.

 

 

Da wir uns schon einmal in mitteleuropäische Gefilde gewagt haben, begeben wir uns ein bisschen nach Norden, genaugenommen in die bayerische Metropole, um dort dem umstrittensten Politiker der deutschen Gegenwart einen kleinen Besuch abzustatten. Es handelt sich zweifellos um eine gewichtige Persönlichkeit in mehrfacher Hinsicht.

Ein Strauß ohne Blumen

Vor ungefähr zwei Jahren, kurz vor den Wahlen, erhielt ich eine überraschende Einladung. Franz Josef Strauß, damals Kanzlerkandidat, verlieh seinem Wunsch Ausdruck, mich zu einem privaten Abendessen zu treffen. Ich fragte Herrn Strauß, ob ich darüber schreiben dürfte. Es wurde von ihm genehmigt, natürlich. Ich wusste alles über Franz Josef Strauß, was ein gut informierter Mensch wissen sollte, nämlich, dass er dick und ein Schattenkanzler mit sonnigen Aussichten ist. Ich rief unser Auswärtiges Amt in Tel Aviv an, um mir Instruktionen geben zu lassen. Dort sagte man mir, der Strauß-Experte sei zufällig gerade außer Haus, möglicherweise in Singapur. Dann fiel mir der vernichtende Artikel einer besonders progressiven Wochenschrift ein, die den bayerischen Ministerpräsidenten als ein haargenaues Ebenbild des Satans darstellte. Das entschied die Sache zugunsten von Strauß.
Wir trafen unsere Verabredung, und ich verbrachte die darauffolgenden Tage damit, Erkundigungen bei informierten Kreisen in Deutschland einzuholen. Sie ergaben ein ziemlich einheitliches Bild. Von zehn Befragten waren im Schnitt neun gegen Strauß, und der Rest enthielt sich der Stimme. Der schwerwiegendste Grund gegen ihn war sein Gewicht. Mindestens 100 Kilo, wenn nicht mehr, sagten sie. Ein erfahrener Journalist ließ mich streng vertraulich wissen, dass Strauß auch praktisch Analphabet sei. Ich antwortete milde, dass er, soviel ich wüsste, den akademischen Abschluss in Geschichte und Altphilologie habe. Worauf er sagte, das möge sein, aber ich könne nicht leugnen, dass der Mann dick sei.
Wir trafen uns also in München zum Essen. Als Herr Strauß ein bisschen verspätet erschien, war ich erstaunt festzustellen, dass er dick ist. Oder besser, weniger dick als rund. Ein runder menschlicher Dynamo, so energiegeladen, dass es unmöglich ist, in seiner Gegenwart über die Energiekrise zu sprechen. Er kam von selbst auf dieses Thema: »Ich bin der Meinung«, sagte Herr Strauß, »dass für die gegenwärtige Ölkrise drei Pseudo-Finanzfaktoren verantwortlich sind, nämlich:
das substanzlose wirtschaftliche Vakuum, das durch unwirksame diplomatische Maßnahmen entstanden ist;
die zunehmende Auswirkung der Inflationskurve auf entwicklungshilfegierige Industrieländer;
die Unfähigkeit subventionierter Wirtschaftszweige, globalpragmatische Denkungsweisen anzuwenden.«
Ich sagte Herrn Strauß, dass ich in jeder Hinsicht mit Ihm übereinstimme. Mein Gastgeber sei schließlich beides gewesen, Finanzminister und Energieminister, ich jedoch noch nicht. Es ist also gar nicht erstaunlich, dass seine Meinung besser fundiert sei als meine. Seine Antworten kamen prompt, als ob er sich auf diesen Tag vorbereitet hätte.
Wir begannen unser Menü mit Schildkrötensuppe. Draußen standen bewaffnete Wachen, die ab und zu nach uns schauten. Herr Strauß ist eine bevorzugte Zielscheibe für europäische Freiheitskämpfer und eine großflächige noch dazu.
Während wir unsere Suppe aßen, wurde ich immer neugieriger auf den Menschen hinter dem Politiker, auf sein Privatleben, seine Träume, seine Sehnsüchte.
»Ich glaube, Sie im Fernsehen auf einem Motorrad gesehen zu haben, Herr Strauß«, sagte ich deswegen.
»Ich bin auch ein begeisterter Motorradfahrer.«
Es war offensichtlich, mit welcher Freude Herr Strauß auf die persönliche Ebene umzuschalten bereit war. »Motorradfahren«, antwortete er, »hat fünf funktionelle Grundvorteile:
den unmittelbaren Kontakt zur sauerstoffreichen Umgebung;
das sportliche Hochgefühl, das durch die Kontrolle über ein hochentwickeltes Instrument von ungeheuer dynamischer Potenz entsteht;
die innere Befriedigung, seine eigenen psychosomatischen Ängste durch die Bewältigung des Fahrrisikos zu überwinden;
die Aspekte des durcheilten Panoramas individuell zu entblößen;
die relative Wirtschaftlichkeit des Brennstoffverbrauchs dieses zweirädrigen Fahrzeugs.«
Ich stimmte ohne jeden Vorbehalt zu. Ich erkannte ganz einfach, dass Herr Strauß ein absoluter Experte auf dem politisch-sozial-militärisch-finanziell-motorradsportlichen Gebiet ist, der seine Gedanken präzise zu layouten weiß. Deshalb beginnt jedes seiner Argumente mit einem fetten Punkt und einer neuen Zeile.
Ermutigt machte ich einen zweiten Versuch, den Menschen hinter den fetten Punkten zu entdecken, und fragte ihn nach seinem Familienleben. Wie sich herausstellte, hat Herr Strauß die Absicht, mit seiner Familie zu einem zweitägigen Urlaub nach Peking zu fahren. Er kennt wirklich jede bekannte und unbekannte Größe aus dem Who is Who?, von Fidel Castro bis Shimon Peres.
Wohlwollend fragte mich Herr Strauß dann nach meiner Familie. Ich erzählte ihm stolz, dass ich drei Kinder habe:
Rafi;
Amir;
Renana.
Daraufhin kamen wir auf die Bevölkerungsexplosion in der dritten Welt zu sprechen, ein umfangreiches Thema, das nach sechs fetten Punkten seitens Herrn Strauß verlangte. Die Bereitschaft meines Gastgebers, jedes Thema bis zum letzten fetten Punkt auszuschöpfen, beeindruckte mich. Er ist wirklich ein Bulldozer, dachte ich im stillen, aber ein herziger.
Als wir beim Dessert angelangt waren, hatte ich mich sogar dafür entschieden, dass er eigentlich nicht dick ist, eher horizontal. Ich meine, seine Höhe geht in die Breite, das ist alles.
Dennoch, nach einem raschen Streifzug durch den Mittleren Osten mit zwei palästinensischen Semikolons und einem Schrägstrich für Reparationszahlungen an Israel, überkam mich der unwiderstehliche Drang, Herrn Strauß eine Frage zu stellen, auf die er nicht mit einer seiner eloquenten Antworten parieren konnte. Ich überlegte angestrengt und kam auf Schildkrötensuppe.
»Die Suppe war köstlich«, sagte ich, »obwohl es, soviel ich weiß, Probleme mit Schildkröten gibt, weil sie sich im Winter nicht fortpflanzen.«
»Schildkrötenfortpflanzung im Winter«, sagte Herr Strauß, »bedarf vier geopolitischer Grundvoraussetzungen:
eines Gebietes mit genießbarer Vegetation, das mit ausreichender Geländeabwechslung zwecks Ehestand und Nistmöglichkeiten ausgestattet ist;
des biologischen Fortpflanzungs- und Arterhaltungstriebes, der auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt ist;
eines Klimas mit Temperaturen, die nicht unter 25 Grad Celsius im Schatten absinken.«
»Ohne Zweifel«, stimmte ich zu, »aber sagten Sie nicht, Herr Strauß, zur Schildkrötenfortpflanzung im Winter seien vier Dinge nötig? Was ist denn nun das vierte?«
»Schildkröten«, sagte Herr Strauß. Ich gab es auf, ich war ihm eben doch nicht gewachsen. Wenn man seine erstaunliche Energie je für friedliche Zwecke nutzen sollte, könnte man eine ganze Straße damit beleuchten.
Bevor wir uns trennten, machte ich einen letzten Versuch, ihm eine Antwort ohne fette Punkte auf eine sehr persönliche Frage zu entlocken.
»Herr Strauß«, sagte ich, »was werden Sie tun, wenn Sie nicht zum Kanzler gewählt werden?«
Zum erstenmal während unseres Gesprächs verschlug es meinem erlauchten Gastgeber die Sprache. Sein fassungsloser Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er offenbar den Sinn meiner Frage gar nicht recht verstanden hatte. Schließlich murmelte er etwas wie, in diesem ganz unvorstellbaren, hirngespinstigen, fast grotesken Fall würde er wahrscheinlich öfter auf die Jagd gehen.
Mit einem Gefühl des Triumphs stellte ich fest, dass er auf den fetten Punkt verzichtete und nicht zu einer neuen Zeile ansetzte. Ich beschloss also, es dabei zu belassen, keine weiteren Fragen.
Es war Zeit, zu gehen. Herr Strauß wirkte etwas bedrückt, trug seine Niederlage aber wie ein Mann. Er schüttelte mir die Hand und wünschte mir und meiner Familie alles Gute. Vorsichtig löste ich die Finger meiner rechten Hand wieder voneinander und wandte mich zum Gehen. Nach einigen Schritten drehte ich mich noch einmal nach dem Politiker Strauß um und wollte auch dem Menschen Strauß auf Wiedersehen sagen, aber ich gewahrte nichts als einen runden Kanzlerkandidaten inmitten eines Haufens fetter Punkte.