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Meine Lieblingssatiren von Ephraim Kishon Kishon über sich selbst

 

 

 

Ein Aberglaube kommt selten allein.

Jetzt, da ich bereits Großvater bin, fühle ich mich verpflichtet, ein Geheimnis zu verraten, das ich bisher hinter dem unauffälligen Benehmen eines nüchternen, brillentragenden Intellektuellen verborgen habe. Ich bin in den letzten Jahren einem Laster verfallen. Ich wette gegen mich selbst. Und zwar wette ich, ob eine bestimmte Angelegenheit gut ausgehen wird oder nicht. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es, sind die ersten Symptome dieser Wettleidenschaft bereits im Alter von neun Jahren bei mir aufgetreten.

 

Ich benutzte auf dem Schulweg immer den Rand des Gehsteigs und kam dabei auf folgende Wette: Wenn es mir gelingt, mit normal großen Schritten keine Querlinie auf den Randsteinen zu berühren, wird mir der Lehrer nicht draufkommen, dass ich die Hausaufgabe im Rechnen vergessen habe. Um es kurz zu machen, die Querlinien blieben unberührt, und der Lehrer war krank. So fing es an.

 

Mit 14, also an einem Wendepunkt meiner Biographie, ging ich einmal die vier Stockwerke von unserer Wohnung hinunter und setzte alles auf eine Karte. Wenn die letzte Stufe des Treppenhauses auf eine ungerade Zahl fällt, dann, so wettete ich mit mir, wird das Ziel meiner Sehnsucht, das blonde Mädchen aus der gegenüberliegenden Wäscherei, sich Hals über Kopf in mich verlieben. Bis heute erinnere ich mich an diese letzte Stufe. Sie fiel auf die Zahl 112. Ich habe mich nicht in Jolankas Nähe gewagt, und unsere hoffnungsvolle Liebe endete, vom Treppenhaus zum Tode verurteilt.

 

Manchmal wurde meine Besessenheit fast unerträglich, besonders während des Zweiten Weltkriegs. Eines regnerischen Nachmittags, am Budapester Donaukai, wehte mir der Sturm den Hut vom Kopf, und während ich losrannte, schloss ich eine Wette ab: Wenn ich den Hut erwische, bevor er ins Wasser fällt, wird Adolf den Krieg verlieren. Ich erwischte den Hut, bevor er ins Wasser fiel. Der Rest ist Geschichte. Das soll nicht heißen, dass ich das Schicksal des Dritten Reichs besiegelt habe. Aber immerhin...


Nach dem Krieg entspannte sich die Situation ein wenig. Nur noch gelegentlich wettete ich gegen mich, etwa dass ich mit geschlossenen Augen und ohne anzustoßen durch die nächste Türe gelangen müsste, um das Gelingen eines Plans herbeizuführen. Prompt stieß ich mit dem Kopf gegen den Türrahmen, und vorbei war es. Das Schlimmste ist, dass man die Wette nicht wiederholen darf. Wenn man gegen die Wand stößt, hat man verloren. So verlangen es die Regeln.
Ich hatte gehofft, dass ich mir das mit den Jahren abgewöhnen würde, aber jetzt wird es immer schlimmer. Und es tröstet mich nicht, dass auch andere dieser pseudoreligiösen Leidenschaft verfallen sind. Einer meiner Freunde macht lebenswichtige Entscheidungen davon abhängig, ob auf seinem morgendlichen Busticket die Ziffer 7 auftaucht. Ein anderer, im Bankwesen tätig, überlässt Entscheidungen des nächsten Tages dem Druckknopf seines Fernsehapparates: Wenn er ihn abstellen kann, bevor zum Programmabschluss die Nationalhymne beginnt, wird er eine bestimmte Transaktion durchführen. Wenn nicht, dann nicht.

Auch menschliche Elemente schleichen sich in die Wettsysteme ein. Ich mache einen Spaziergang, sehe einen anderen Spaziergänger auf mich zukommen und spüre in allen Knochen: Wenn ich den Laternenpfahl zwischen uns als erster erreiche, wird der Schekel nicht abgewertet. Eine solche Wette verlangt äußerste Fairness, denn es ist natürlich verboten, schneller zu gehen. Es ist bestenfalls erlaubt, ganz unauffällig längere Schritte zu machen.

*

Ähnliches spielt sich auf Rädern ab. Ich meine die »Bremsenlose Wette«, die sich unter Profis großer Beliebtheit erfreut. Dabei nähert sich der Fahrer bei roter Ampel langsam der Kreuzung und erreicht sie genau in dem Augenblick, wenn sie auf Grün wechselt. Wenn das gelingt, bleibt er während der nächsten Jahre gesund. Das ist übrigens eine Wette, die besonders starke Nerven voraussetzt. Einmal, ich hatte gerade auf das Glück meiner eigenen Familie gewettet, fuhr ich unaufhaltsam auf die rote Ampel zu, die erst im allerletzten Augenblick grün wurde. Ich müsste mir noch auf der Kreuzung den kalten Schweiß von der Stirne wischen. Aber die Zukunft meiner Kinder war gesichert.
Dann gibt es noch die »Honda- Wette«. Sie besteht, wie der Name andeutet, darin, dass man die Anzahl der Hondas errät, denen man zwischen Tel Aviv und Haifa begegnen wird. Wenn man die Wette ein paar Mal gewonnen hat, muss man allerdings gestehen, dass man das Resultat (843) im voraus weiß. Na und? Dann ist es eben eine kontrollierte Wette. Mal etwas anderes. Dann und wann kann man sich ruhig einen kleinen Schwindel erlauben. Wenn ich zum Beispiel bei rotem Licht vor einer Kreuzung anhalten muss und die Augen schließe, um sie genau beim Wechsel auf Grün zu öffnen, wird mir niemand ein kleines Blinzeln in Richtung Ampel verbieten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich blindlings in Gefahr. Man lebt nur einmal.

Warum erzähle ich das alles? Ich erzähle es zwecks Hebung der öffentlichen Moral.
Ich fuhr nämlich gestern mit dem Aufzug zur 11. Etage unseres stolzen Wolkenkratzers, des Schalom-Turms, und ging eine höchst riskante Wette ein, indem ich den Knopf drückte, meine Augen schloss und die Etagen zu zählen begann. Die Wette ging um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal unseres Landes: »Wenn ich bis zur 11. Etage richtig zähle, werden wir endlich Frieden mit unseren arabischen Nachbarn haben.« Ich zählte mit äußerster Konzentration, und wirklich, als ich die Augen öffnete, hielt der Aufzug in der 11. Etage. Es stimmte auch umgekehrt, als der Aufzug in der 11. Etage hielt, öffnete ich die Augen. Es war ein vollkommen ausgewogenes, ganz und gar überzeugendes Resultat, ein Sieg auf der ganzen Linie.
Künftige Generationen, so hoffe ich, werden zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe.

 

 

Interview mit mir selbst

»Sie sind Ephraim Kishon, der Schriftsteller...?«
»Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin nur ein Humorist.«
»Was ist der Unterschied?«
»Es gibt keinen. Aber Humoristen werden im allgemeinen nicht als Schriftsteller bezeichnet.«
»Entschuldigen Sie - die diversen Lexika und Enzyklopädien sind voll mit Namen von Humoristen.«
»Von toten. Erst wenn man stirbt, wird man ein Schriftsteller. Zu Lebzeiten ist man Humorist«
»Und kann zu Lebzeiten ganz gut davon leben, oder nicht?«
»Habe ich mich beklagt? Ich habe nur Tatsachen festgestellt. Ein Schriftsteller gilt als seriös. Einer, der die Menschen lachen macht, kann doch nicht seriös sein. Stimmt's?«
»Es stimmt. «
»Sie sind ein Idiot.«
»Ich hab's nicht so gemeint. Ich meine ... er ist zwar seriös... aber er bringt die Leute zum Lachen ... nein, umgekehrt... «
»Es wäre besser, wenn wir dieses Interview abbrechen.«
»Seien sie doch nicht so empfindlich, um Himmels willen!«
»Wie sollte ich nicht empfindlich sein, wenn's um mich selbst geht?«
»Sie stehen im Ruf, auf die geringfügigsten Attacken - auch auf solche, die Sie sich nur einbilden - mit hemmungsloser Wut zu reagieren und alle Kritiker in Bausch und Bogen zu verdammen. Was sagen Sie dazu?«
»Nichts.«
»Warum nicht?«
»Weil Sie mich nicht verstehen würden. Ich habe Zahnschmerzen, nicht Sie. Über diesen Punkt könnten wir erst sprechen, wenn ich Ihnen die Zähne eingeschlagen hätte. Wir stehen in verschiedenen Lagern. Ich schreibe, Sie lesen.«
»Das klingt sehr hässlich. So kann man das Thema doch nicht behandeln.«
»Deshalb wollte ich ja auf die Behandlung verzichten. Einer meiner Freunde, ein Journalist, hat immer behauptet, dass ich an Verfolgungswahn leide. Jetzt hat er ein Stück geschrieben, das von einem unserer führenden Theater angenommen wurde. ?Armer Junge?, sagte ich zu ihm. ?Du warst ein glücklicher, zufriedener Mensch, solange du dich als Kritiker betätigt hast. Warum bist du ins andere Lager übergelaufen?? Jetzt ist es mit dem schönen Leben für ihn vorbei. In wenigen Wochen wird er ein zerrüttetes Exemplar im Kreis der schöpferischen Menschen sein. Ein Nervenbündel. Ein Wrack. Und in spätestens einem Jahr werde mit ihm über seinen Verfolgungswahn sprechen.«
»Woher wissen Sie, dass sein Stück durchfallen wird?«
»Ich sagte ja, Sie würden mich nicht verstehen. Wenn das Stück durchfallt, wäre mein Freund gerettet. Nach einer Weile hätte er den Zwischenfall vergessen und könnte den Kopf hoch tragen wie zuvor. Die Gefahr besteht darin, dass sein Stück ein Erfolg wird. Dann muss er ein zweites Stück schreiben, Gott helfe ihm. Diese zweite Premiere wird ihm den Rest geben. Und beim dritten Mal zerfetzt man ihn bereits.«
»Wer zerfetzt ihn? Das Publikum ?«
»Das Publikum ist eine abstrakte Größe. Mit dem Publikum kommt nur die Dame an der Abendkasse in Berührung. Nein, zerfetzt wird er von den wenigen Leuten, denen er täglich begegnet.«
»Muss er ihnen unbedingt begegnen? Es gibt ja noch andere.«
»Dann werden ihn eben die anderen zerfetzen.«
»Aber warum?«
»Schauen Sie bei Kafka nach. Der viele Bücher darüber geschrieben«
»Kafka?«
»Ja. Er war unter anderem ein großer Humorist. Noch die trockensten Stellen seiner Romane sind besser als eine ganze Seite von Witzen.«
»Da fällt mir ein -kennen sie die Geschichte von dem katholischen Priester, dem mohammedanischen Kadi und dem Rabbi, die zusammen in einem Flugzeug sitzen und ...«
»Was sagt der Rabbi?«
»Wie bitte?«
»Ich weigere mich, die ganze lange Geschichte anzuhören, bis wir zum Rabbi kommen. Was sagt der Rabbi am Schluss?«
»Er sagt: ?Also gut?, und springt mit dem Regenschirm hinaus «
»Großartig.«
»Man hat mich gewarnt, dass Sie im Privatleben überhaupt keinen Humor haben. Was macht Sie so traurig?«
»Ich bin nicht traurig. Ich habe nur ein trauriges Gesicht.«
»Angeblich sind Humoristen immer traurig.«
»Sie sind es nicht. Vielleicht einsam. Oder nachdenklich. Dieser sonderbare Beruf verlangt das Herausschälen der Wahrheit aus den vielen Schichten, von denen sie überlagert wird. Man schält und schält. Und eines Tages merkt man, dass das genaue Gegenteil von dem, was man in der Schule gelernt hat, richtig ist: Lügen haben lange Beine. Ehrlichkeit ist die Ausrede der Feiglinge. Deine Freunde sind deine Feinde. Jemandem einen Gefallen zu tun ist der sicherste Weg, seinen Hass zu erregen. Güte ist Schwäche. Brutalität ist Stärke. Geld ist alles. Gott ... «
»Hören Sie auf. Wie kann man so fürchterliche Dinge aussprechen?«
»Als Humorist kann man. Der Humorist ist ja nicht ernst zu nehmen. Und merkwürdigerweise klingen alle diese fürchterlichen Dinge gar nicht so fürchterlich, wenn man sie in Humor verpackt. Dann kann man den Menschen die bitterste Wahrheit zu schlucken geben, und sie werden sich köstlich darüber amüsieren.«
»Das sagen Sie nur, weil Sie die Menschen verachten.«
»Ich verachte sie keineswegs. Ich versuche sie nur kennenzulernen. Und je gründlicher ich meine Illusionen über sie aufgebe, desto liebenswerter erscheinen sie mir. Es ist leichter, einen Lumpen zu lieben als einen Heiligen.«
»In jedem Menschen steckt ein guter Kern.«
»Gewiss. Den ganzen Tag lang ist er ein böser, grausamer Unhold - am Abend geht er ins Kino und vergießt heiße Tränen über das Benehmen eines bösen, grausamen Unholds auf der Leinwand. Da zeigt sich sein guter Kern. Im Kino. Wahrscheinlich nur im Kino.«
»Sie sind ein unheilbarer Zyniker.«
»Von Berufs wegen. Ich hasse niemanden. Und ich liebe das Kino.«
»Ist Ihnen bewusst, dass Sie mit einem schweren ungarischen Akzent sprechen?«
»Ja.«
»Wie schreiben Sie?«
»Von rechts nach links. Hebräisch.«
»Wirklich? Und was für Eigenheiten haben Sie beim Schreiben?«
»Keine. Es tut mir leid, Ihnen diesbezüglich nichts anbieten zu können, was das Publikum gerne hören würde. Weder schreibe ich in einer mit lauem Wasser gefüllten Badewanne zum Klang eines Streichquartetts, noch inspiriert mich der Vollmond hinter Wolken. Ich stehe an jedem Morgen um 6.30 Uhr auf, setze mich an den Schreibtisch und schreibe mit einem gut gespitzten Bleistift bis 10 Uhr von rechts nach links. Ich arbeite wie jeder andere Mensch.«
»Klingt nicht sehr eindrucksvoll. Wo bleibt die Kunst, wo bleibt die Freude am Kreativen?«
»Wer hat gesagt, dass mich das Schreiben freut?«
»Was freut Sie denn sonst?«
»Mich freut das fertige Produkt, der Augenblick, in dem ich den Schlusspunkt setze. Ich liebe das Baby, nicht die Geburtswehen. Und der Anblick der Regale mit meinen eigenen Büchern macht mich geradezu trunken vor Glück. Aber das Schreiben selbst ist eine freudlose, ermüdende Tätigkeit.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Vergessen Sie's. Ich habe nur gescherzt.«
»Dacht ich's doch ... Was wollte ich eigentlich fragen?«
»Ob ich mich für einen Satiriker oder einen Humoristen halte.«
»Stimmt. Wieso wussten Sie ...?«
»Erfahrung.«
»Auch hier erhebt sich die Frage nach dem Unterschied.«
»Die habe ich Ihnen ja schon beantwortet: Sowie der Humorist stirbt, wird er zum Satiriker erhoben. Die Zeit arbeitet für mich. Mir braucht nur ein Ziegelstein auf den Kopf zu fallen - und ein paar Tage später bin ich ein Satiriker. Vorläufig bin ich ein Humorist, der Satiren schreibt.«
»Was bedeutet das schon wieder?«
»Die Leute wollen keine Satiren. Sie wollen lachen. Andererseits legen sie Wert auf Niveau, nämlich darauf, dass ihr Lachen Niveau hat. Also nehmen sie ihr Lachen als Beweis dafür, dass das, worüber sie gelacht haben, eine Satire war. Ein Musterfall dieses Verfahren ist Charlie Chaplin. Viele Jahre lang hat er dem Publikum die scheinbar primitivsten Slapstick-Possen geboten, in die man - eben ihrer Primitivität wegen alles mögliche hineindeuten konnte, tatsächlich betrachtete ihn die Welt großen satirischen Philosophen, der den Kampf des kleinen Mannes gegen die mächtige Gesellschaft dadurch zum Ausdruck brachte, dass er ins Wasser plumpste oder an einem Kanalgitter hängenblieb. Man jubelte ihm zu, und seine Filme waren monatelang ausverkauft. Dann wurde älter und produzierte wirkliche, wunderbare Satiren. Damit verlor er sein Publikum.«
»Und fand seine eigene Wahrheit.«
»Die Wahrheit lockt niemanden ins Kino. Und dem Schriftsteller droht eine ähnliche Gefahr. Sobald er ein bestimmtes Niveau überschreitet, sinkt seine Beliebtheit ab, und seine Bücher werden nicht kauft.«
»Lässt sich das vermeiden?«
»Ja. Indem man mittelmäßig schreibt. Indem man unter sein Niveau geht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass der Schriftsteller sich an das Niveau seiner Leser angleichen, also zu ihnen herabsteigen muss?«
»Durchaus nicht. Er kann sie ignorieren und in seiner Einsamkeit schaffen, die der Engländer als ?splendid isolation? bezeichnet. Allerdings wird er sich da sehr elend fühlen.«
»Und wenn der Schriftsteller zum Niveau der Masse herabsteigt?«
»Dann fühlt er sich noch elender.«
»Und wie bewältigen Sie für sich persönlich diesen Zwiespalt?«

»Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin Humorist.«

 

 

Eine alte jüdische Tradition macht es dem Wohlhabenden zur Pflicht, den Bettler von der Straße an seinen Tisch zu laden. Diese Tradition hat sich bis heute in unserem Staat erhalten - nur ist es heute sehr oft der Bettler, der die Rechnung zahlen muss.

Die Nacht, in der mein Haar ergraute

Die Premiere war vorüber. Nachdem wir in den Künstlergarderoben pflichtgemäß unsere Glückwünsche abgeliefert hatten, versammelten wir uns beim Bühnenausgang, um ernsthaft über die Dinge zu reden. Wir befanden uns in bester Stimmung, denn das Stück hatte einen einwandfreien Durchfall erlitten. Jetzt galt es, die Ursachen zu analysieren.
Plötzlich fragte Kunstetter (ich erinnere mich ganz genau, dass die Frage von Kunstetter kam):
»Wie wär's und wir gingen eine Kleinigkeit essen?«
Sein Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Jemand empfahl das neueröffnete »Balalaika« - Restaurant, das - wie schon der Name vermuten ließ - feinste französische Küche offerierte. Die Preise in einem solchen Lokal liegen zwar etwas über dem Durchschnitt, aber nach einem schlechten Stück will man wenigstens gut essen.
Schon rein äußerlich machte die »Balalaika« einen erstklassigen Eindruck. Die holzgetäfelten Wände waren mit Gobelins geschmückt, das Licht kam aus hohen Kerzenhaltern und die Kellner aus Südfrankreich. Sechs Tische wurden zusammengeschoben, und bei dieser Gelegenheit zeigte sich, dass unsere Gesellschaft aus mehr als zwanzig Personen bestand, darunter eine Anzahl völlig Unbekannter. Das ist schon so beim Theater. Gewisse Randfiguren des Betriebs hängen sich immer an die Berühmtheiten an.
Obwohl die Preise unsere schlimmsten Befürchtungen übertrafen, bestellten wir allerlei kalte und warme Hors-d'oeuvres und als Hauptgericht die Spezialitäten des Hauses. Alles schmeckte vorzüglich, der Wein war spritzig, die Konversation desgleichen, das Leben war schön, und zur Hölle mit kleinlichen Pfennigfuchsereien.
Ich hatte gerade den letzten Bissen meines Steaks au poivre mit einem kräftigen Schluck Pommard heruntergespült, als meine Ehefrau, die beste von allen, mich am Ärmel zupfte.
»Ephraim«, flüsterte sie. »Schau! «
Tatsächlich: einige Plätze am Tisch waren leer. Ihre Inhaber mussten sich nach Beendigung der Mahlzeit verflüchtigt haben. Insgesamt tafelten noch zwölf Personen. »Die als erste gehen, werden fallen«, lautet ein altes Wahrwort. Aber es ist nirgends die Rede davon, dass sie vorher zu zahlen haben...
Meine Blicke suchten den Oberkellner und fanden ihn. Er hatte sich in eine strategisch wichtige Ecke platziert und stand in seinem einwandfreien Frack beinahe reglos da. Nur von Zeit zu Zeit hob er die buschigen Augenbrauen und machte Notizen.
Ich merkte, dass auch die Blicke der anderen auf ähnliche Art beschäftigt waren wie die meinen. Ihr sonderbares Flackern schien eine geheime Furcht auszudrücken, die sich nicht in Worte fassen lässt oder höchstens in die Worte: »Wer wird das bezahlen?«
Die nächste Bestandsaufnahme ergab zehn Verbliebene. Im Schutz der intimen Kerzenbeleuchtung hatte ein weiteres Paar den Raum verlassen. Immer schleppender wurde die Konversation, immer dumpfer die Spannung, die über der Tafel lag. Niemand wagte seinen Nachbarn anzusehen. Fast glaubte man das Klicken der inneren Registrierkassen zu hören, die den Preis der einzelnen Bestellungen zusammenrechneten. Nach und nach richteten sich alle Augen auf Kunstetter. Rein moralisch betrachtet, müsste eigentlich er für die Rechnung aufkommen. Die Einladung war ja von ihm ausgegangen. Ein anderer wäre gar nicht auf die Idee gekommen, nach einem so miserablen Theaterabend auch noch ein kostspieliges Restaurant aufzusuchen. Wie hatte Kunstetter gesagt? Kommt, meine Freunde«, hatte er gesagt, »kommt und speist mit mir! « Möglicherweise hatte er sogar hinzugefügt: »Ihr seid meine Gäste« oder etwas Ähnliches. Jedenfalls stand fest, dass er der Veranstalter des Unternehmens war. Und er war ein rechtschaffener Mann. Er würde zahlen. ganz gewiss würde er zahlen. Oder?
Neun Augenpaare hefteten sich auf ihn.
Kunstetter beendete mit nervenzermürbender Gelassenheit seine Mahlzeit und bestellte Kaffee. Wir hielten den Atem an. Hätte Kunstetter sich jetzt mit der Frage, ob jemand Kaffee wünsche, an die Runde gewandt, so hätte er sich damit eindeutig als Gastgeber deklariert und die Verantwortung für die finanzielle Seite der Angelegenheit auf sich genommen. Kunstetter tat nichts dergleichen. Gleichmütigen Gesichts schlürfte einen Kaffee und plauderte Belangloses mit Madame Kunstetter. Unterdessen hatten noch ein paar Ratten das sinkende Schiff verlassen. Die Passagierliste war auf sieben verlorene Seelen geschrumpft. Wer zahlt?
Längst waren alle Gespräche versickert. Dann und wann fiel eine kurze Bemerkung über Vietnam oder über das jüngste Ehescheidungsgerücht aber das wahre Interesse der Anwesenden galt nur noch eben dieser Anwesenheit: jede weitere Verminderung würde für die Zurückbleibenden ein Anwachsen der Zahlungsgefahr bedeuten, dessen waren sich alle bewusst.
Eine der Geiseln, Ben-Zion Ziegler, erhob sich mit demonstrativer Gleichgültigkeit
»Entschuldigen Sie mich, bitte,« sagte er. »Ich muss einen dringenden Anruf machen.«
Ohne Hast, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, schlug er die Richtung zu der nahe beim Ausgang gelegenen Telefonzelle ein. Kalter Schweiß trat auf unsere Stirnen. Erst jetzt fiel uns auf, dass Ziegler ohne seine Frau gekommen war, was ihm erhöhte Bewegungsfreiheit gewährte.
Er kam nie zurück. Wochen Später berichtete ein angeblicher Augenzeuge, dass Ziegler tatsächlich die Telefonzelle betreten und hernach zu unserem Tisch zurückgewinkt hätte, bevor er das Lokal verließ. Niemand hatte ihn winken gesehen. Hat er überhaupt gewinkt? Und wenn er überhaupt gewinkt hat: was soll's? Wer zahlt?
Die Runde bröckelte weiter ab, die dumpfe Spannung nahm weiter zu. Ich verfluchte die Unachtsamkeit, die meine Frau und mich verführt hatte, unsere Plätze so zu wählen, dass die Kellner in unserem Rücken standen und dass wir nicht sehen konnten, was sie dort planten. Wir waren in größter Gefahr, ihrer Verschwörung zum Opfer zu fallen. Jeden Augenblick konnte sich der Oberkellner von schräg seitwärts über mich beugen und mir die vornehm unter einer Serviette verborgene Rechnung zuschieben. Ich hatte keine Ausweichmöglichkeit. Ich war wehrlos. Und dann geschah etwas Entsetzliches.
Mit dem Ausruf »Um Himmels willen!« sprang Kunstetter auf, wobei er einen besorgten Blick auf seine Uhr warf. »Unser Babysitter!« Und eh wir uns dessen versahen, hatte er mit seiner Frau den Tisch verlas­sen.
Ingenieur Guck öffnete den Mund, als ob er ihm etwas nachrufen wollte, brachte aber nur ein unartikuliertes Gurgeln hervor und sank aschfahl In seinen Sessel zurück. Kunstetter war unsere letzte Hoffnung. Jetzt, nach seiner feigen Flucht, bestand die Zahl der Eingeschlossenen aus drei Ehepaaren: den Glicks, den Bar- Honigs und uns. Ich sah mich um. Der Oberkellner stand noch immer in seiner Ecke und fixierte uns unter buschigen Augenbrauen. Nie im Leben habe ich so buschige Augenbrauen gesehen. Wie hoch die Rechnung wohl sein würde? Kalte und warme Vorspeisen, Steaks vom Infragrill, gepflegte Weine ...
Plötzlich begann Frau Bar- Honig mit ihrem Gatten polnisch zu reden. Man brauchte keinen Dolmetscher, um zu verstehen, worum es ging. Ich war entschlossen, nicht nachzugeben. Wie zur Bekräftigung fühlte die Hand der besten Ehefrau von allen in der meinen. Es tut gut, in den wirklich kritischen Situationen, die uns das Schicksal auferlegt, nicht allein zu sein. Ich erwiderte ihren Händedruck. Wir wussten, dass jetzt der Kampf auf Tod und Leben begonnen hatte. Ein achtloser Schritt und du bist verloren. Aufgepasst, alter Junge! Wer jetzt eine Andeutung innerer Schwäche erkennen lässt oder vielleicht gar eine kleine Gebärde macht, die der Ober als Zeichen von Zahlungswilligkeit missdeuten könnte, hat es sich selber zuzuschreiben. Vor meinem geistigen Auge tauchten die vielen tragischen Fälle auf, in denen ein Unschuldiger die Rechnung für eine ganze Gesellschaft zahlen musste, nur weil er unbedachterweise die Hand gehoben hat, um eine Fliege zu verscheuchen:
Schon war mit einem Satz der Kellner da und drückte ihm den unheilvollen Wisch in die Hand. Also keine Handbewegung. Überhaupt keine Bewegung.
Eiserne Ruhe.
Es ging auf drei Uhr früh. Obwohl unser Tisch schon seit zwei Stunden der einzige noch besetzte war, fühlten wir uns untereinander völlig isoliert. Niemand wollte es riskieren, den Aufbruch vorzuschlagen. Wer solches täte, würde unweigerlich die Aufmerksamkeit des Oberkellners auf sich ziehen und müsste die Rechnung zahlen. Da - was war das? Bar­ Honig und Ingenieur Glick sprachen plötzlich mit auffallender Lebhaftigkeit aufeinander ein, ihre Gattinnen unterbrachen sie, fielen ihnen und sich selbst ins Wort, steigerten das Gespräch zu immer größerer Intensität . . . es war klar, was hinter dem Manöver steckte: der Kellner musste sich auf den Weg zu unserem Tisch gemacht haben, und da die anderen so tief in ihr Gespräch verwickelt waren, würde er sich an mich als an den einzig Zugänglichen wenden.
Mir blieben nur noch wenige Sekunden. Mein Hirn arbeitete fieberhaft. Und dann hatte ich einen meiner bekannt genialen Einfälle. Ich würde die anderen glauben machen, dass ich tatsächlich bereit wäre, die Rechnung zu übernehmen, würde mittels einiger gezückter Geldscheine ihr Vertrauen gewinnen, und einer oder der andere würde sich schließlich dazu verleiten lassen, aus purer Formalität eine Floskel zu murmeln wie:
»Nein . . . lassen Sie doch . . . « oder dergleichen. Zu seiner namenlosen Bestürzung würde ich daraufhin mit einem eilfertigen »Bitte sehr, ganz wie Sie wünschen !« die Rechnung an ihn weiterschieben und würde zusammen mit meiner Frau sofort verschwinden. Diese Endspielvariante ist allgemein als »Haifarochade« bekannt, weil sie von einem dortigen Industriellen anlässlich einer Silvestereinladung zum erstenmal praktiziert wurde.
Ich wandte mich also halb um und rief laut und deutlich: »Herr Ober! Die Rechnung, bitte «
Die Ehepaare Bar- Honig und Glick verstummten augenblicklich und lehnten sich erleichtert zurück, während ich mit unnachahmlicher Eleganz meine Brieftasche hervorzog und scheinbar unbeteiligt auf den Effekt der Haifarochade wartete.
Diesmal versagte sie kläglich. Weder Glick noch Bar-Honig rangen sich auch nur zu einem Ansatz jener guten Manieren durch, die man von halbwegs zivilisierten Menschen füglich erwarten darf. Sie saßen stumm und mit gesenkten Augen, nur ihre Nasenflügel vibrierten ein wenig das war alles. Um die Mundwinkel Ingenieur Glicks glaubte ich sogar ein schäbiges Lächeln spielen zu sehen, aber da handelte es sich wohl schon um eine Fiebervision, wie sie auf einen zum Untergang Verurteilten eindringt.
Mit zwei Fingern lüftete ich die Serviette, gerade weit genug, um die Endsumme der Rechnung ins Blickfeld zu bekommen.
Sie belief sich auf 160 Pfund.
»Bitte nur zu unterschreiben, Monsieur«, sagte der Kellner.
»Her Kunstetter hat alles auf sein Konto setzen lassen.«
Ich krallte meine freie Hand ins Tischtuch. Nie werde ich Kunstetter diese Nacht verzeihen. Nie. Warum hat er das getan? Warum hat er uns stundenlang in qualvollen Ängsten schmoren lassen? Was für ein sadistischer Schuft muss er sein, um auf eine solche Tücke zu verfallen?
Gleichmütig signierte ich die Rechnung, steckte meine Brieftasche wieder ein und verließ den Tisch, ohne mich nach den schäbigen Schnorrern umzusehen, die in starrer Bewunderung dasaßen. Jetzt hatten sie endlich einmal gesehen, wie ein wirklicher Gentleman sich als Herr der Lage zeigt.
Mein Ruf ist seither allenthalben gestiegen. Auch Sie werden schon davon gehört haben. »Man kann« - so heißt es immer wieder -, »man kann über Kishon sagen, was man will: aber großzügig ist er. Wirklich großzügig.«
 

 

 

Gäste willkommen

Vor ein paar Tagen fragte ich Jossele, ob er den Schabbatvormittag nicht mit mir zusammen am Strand verbringen möchte.
«Das wird leider nicht gehen», sagte Jossele. «Wegen meiner Bar­Mizwah.»
«Entschuldige, Jossele. Ich habe schlecht verstanden. Wessen Bar­Mizwah, sagtest du?»
«Das weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht. Hauptsache ist: Bar-Mizwah. Willst du mitkommen?»
Damit begann es. Jossele eröffnete mir, dass er schon seit vielen Jahren seine Schabbatvormittage regelmäßig im «Industriellen-Club» von Tel Aviv verbringt, weil dort immer etwas los sei - ein Empfang, eine Bar-Mizwah, eine Hochzeit.
«In jedem Fall bekommt man sehr gut zu essen und zu trinken», klärte er mich auf. «Dann geht man mit einem Mädchen oder mit einem kleineren Darlehen weg und hat eine schöne Erinnerung. Ich kann diese Schabbatvormittage jedermann wärmsten empfehlen.»
Pünktlich um elf Uhr, angetan mit unseren dunkelsten Anzügen, fanden wir uns im Industriellenpalast ein. Unterwegs bat ich Jossele um Tipps für richtiges Verhalten, aber das lehnte er ab. Darauf müsse man selbst kommen, meinte er, oder man täte besser, zu Hause zu bleiben. Das einzige, was er mir raten könne: am Tag vorher nichts zu essen. Einige tausend Personen waren bereits versammelt, als wir ankamen. Am Eingang stand ein gutgekleidetes, sichtlich wohlhabendes Ehepaar, das die Gäste in Empfang nahm und vor Erschöpfung beinahe zusammenbrach. Daneben stand ein dümmlich grinsender Knabe. Wir schlossen uns der langsam sich dahinschiebenden Schlange an.
«Maseltow!» sagten wir unisono, als wir vor den Eltern standen, und schüttelten ihnen herzlich die Hände. «Wir gratulieren!»
«Danke», antworteten die Eltern unisono.
«Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind.»
Dann beugte sich Jossele zur eigentlichen Hauptperson nieder und tätschelte die Wangen des mannbar gewordenen Jünglings, der schamhaft errötete und ein verlegenes Kichern durch die Nase stieß.
«Wer sind die zwei?» hörte ich, als wir weitergingen, die Stimme der Mutter in meinem Rücken und hörte die Stimme des Vaters antworten:
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich von irgendeiner Gesandtschaft.»
Kaum hatten wir gemessenen Schrittes den großen Empfangssaal betreten, als Jossele ein schärferes Tempo vorlegte. «Rasch zum Büfett!» raunte er mir zu. «Jede Sekunde zählt. Man sollte es nicht glauben, aber manche Leute kommen nur her, um sich anzufressen. Wenn wir uns nicht beeilen, haben wir das Nachsehen.»
Die Brötchen waren ganz hervorragend, besonders die mit gehackter Gansleber. Wir aßen ihrer je 50 und spülten etwas Bier und Cognac nach, um Platz für die Würstchen und die Bäckereien zu schaffen, die bald darauf gereicht wurden. Schon nach einer halben Stunde fühlten wir uns wie zu Hause. Ich winkte einen Kellner herbei, der sich mit einem bereits geleerten Tablett davonmachen wollte, und trug ihm auf, mir eine Eisbombe zu verschaffen, aber schnell. Jossele bestellte ein Beefsteak und nachher eine Pêche Melba. Einige Gläser Champagner gaben uns wieder ein wenig Aktionsfreiheit für die Ananas. Während des Essens machten wir die Bekanntschaft zweier Minister und baten sie um Posten. Dann interviewten wir den Rektor der hebräischen Universität. Eine dicke Dame verteilte Freikarten fürs Theater. Wir nahmen sechs.
Nach zwei anregend verbrachten Stunden warf Jossele einen prüfenden Blick nach der Küchentür und winkte mich dann zum Ausgang. Jetzt käme nichts mehr, sagte er.
Wir passierten den großen Tisch, auf dem die Bar-Mizwah-Geschenke aufgeschichtet waren. Jossele wählte eine Bibel und ein englisches Wörterbuch, das er schon lange gesucht hatte, ich entschied mich für eine Luxusausgabe von Shakespeares Werken und ein Paar Schlittschuhe. Nächste Woche gehen wir zu einer Hochzeit.